Ulysses vs. Philipp -- Teil 1

Ulysses vs. Philipp -- Teil 1

27. März 2023
Spätestens bei Episode 14 ("Oxen of the Sun") von insgesamt 18 bin ich ausgelaugt. Ich könnte bei Daimler in der 8. Stunde des Freitags am Band stehen – zum unzähligsten Mal hieve ich einen Karosserie-Bestandteil auf den Tisch – es ist dasselbe Gefühl.
Kristina: "Haha, in welchem Kapitel bist du? Hab es damals in Irland gelesen und ja manche Kapitel checkt man mehr und manche weniger." (15.06.2022)
Die verdammten Kapitel sind in meiner Ausgabe¹ als solche nicht betitelt. Einzig drei unterschiedlich große Teile sind anhand von römischen Zahlen gekennzeichnet. Alles was ich in diesem Textmeer vor mir sehe, sind ab und an leere Absätze.² Bei Ulysses werden Kapitel außerdem als "Episoden" bezeichnet (– die in späteren Ausgaben hübscherweise nummeriert und auch mit Begriffen aus der griechischen Mythologie tituliert sind).
Philipp: "Tina. Ich hab doch keine Ahnung! 🤯 -- aber laut Wikipedia sind die Abschnitte IN den römischen Zahlen dann wohl eigentlich einzelne Kapitel 🤷‍♂️" (16.06.2022)

Der Gegner

Das Buch nehme ich ausschließlich körperlich wahr: Wie ein Trainingsregime mit offenem Ende und vielen unbekannten Übungen. Gefordert sind unendliche Disziplin und das Gottvertrauen, dass dies alles doch irgendeinen Sinn haben muss. Am Ende – das ist der Ärger – bin ich einfach leer. In meinem Kern scheint nichts wirklich passiert zu sein.

Gerade "Oxen of the Sun" ist so eine Belastungsprobe. Stilistisch arbeite ich mich wörtlich durch die "Geschichte der englischen Sprache" – wir beginnen bei sowas wie "Middle English" (Jemand Englischstudent? Hier!) und enden im 20. Jahrhundert. Mir scheint, dass "ich, Leser" für diesen Roman nebensächlich bin.

Klar, findet sich hier inhaltlich irgendwie ein Zusammenhang zwischen der Geburt von Mina Purefoys Sohn und sprachlicher Evolution. Aber die Verbindung kommt nicht an – Purefoys Geburt findet "Off-Screen" statt –, denn hauptsächlich stehen saufende Studenten (die dort im Krankenhaus rumlümmeln) im Vordergrund.

Joyce, der Egozentriker

Es ist, als würde ich endlose Monologe eines intellektuellen, missverstandenen, übergangenen Menschen anhören müssen – der hinter sein Schwadronieren aber nur die alltäglichsten, selbstverständlichsten, normalsten Nöte packt – diese in seiner Isolation zur großen Philosophie erhebt – um sich letztlich eine Art Aura zu geben. Das langweilt schnell.
Aus meinen Buchnotizen: "Fair enough. But man, I've had enough of those. Even if it was original then, it's so simple, it wears out way too fast to be relevant."
Joyces Stil ist oft einfach rahmenlos. Endlos selbstreferenziell, bemüht und verdammt clever. Ich seh ihn zufrieden lächeln, während ich mich durch die Windungen seiner ausgedehnten Nervenbahnen schleppe. Hier finde ich nichts mehr außer eben jener Cleverness – ich weiß nicht, was er mir damit zeigen, worauf er hinauswill. Irgendwann nervt mich der Mann mit seinem Krams.

Der Ich-Bezogenheit, der Egozentrik des Buches, liegt eine zurückweisende Arroganz zu Grunde, die mich wütend macht.

Lesen am Rande der Belastungsgrenze

Irgendwann hab ich mich mir Ulysses einfach zur Aufgabe gemacht – Ich will das Buch lesen, das anscheinend das "beste aller Zeiten" ³ sein soll. Es muss sein, es muss fertig werden – und wenn es nur dafür da ist, dass ich dann endlich "wieder was anderes", "was leichteres", "was erfüllenderes" lesen darf.

In meinem jetzt völlig verzerrten Wertesystem, ist Ulysses der Endgegner vorm Glück. Der letzte Wächter, den es zu schlagen gilt. Die Lösung für alle Schwierigkeiten des Lebens: Emotionale Leere, unendliche Länge, kognitive Überanstrengung, hochkomplexe Fremdsprache, lange zurückliegende Veröffentlichung (über 100 Jahre) – dazu Egomanie, Grandiosität, Einsamkeit, Abstraktion / und eine kompositorische Unwucht, die nach Konzeption und Strukturierung schreit. Für mich gibt es keinen anderen Weg, als hieran vorbei. Wenn ich wieder Freude empfinden will, dann nur, *nachdem* ich Ulysses überwunden habe.
Dabei gibt es Episoden, die funktionieren. Wo mir tatsächlich etwas über einen Menschen erzählt wird – wo ich lerne. Als sich der Protagonist, Leopold Bloom, in Episode 13: "Nausicaa" zum Anblick der deutlich jüngeren Gerty MacDowell einen runterholt, kollidieren ihre romantischen Idealvorstellungen direkt mit seiner kruden Geilheit. Hier krachen stilistisch und narrativ zwei unterschiedliche Gedankenwelten und Bedürfnisse aufeinander. Was hier emotional und philosophisch passiert, ist also textlich ideal umgesetzt.
¹ Joyce, James. Ulysses. 1922. Penguin Classics, 2015.

² Das weiß ich aber nur, weil ich irgendwann online auf Wikipedia nachgelesen habe.

³ T.S. Eliot überschlägt sich beispielsweise in seiner Rezension von Ulysses.

Laut Wikipedia liebte auch Schriftsteller Vladimir Nabokov das Buch: "Nabokov called Ulysses a 'divine work of art' and the greatest masterpiece of 20th-century prose, and said that 'it towers above the rest of Joyce's writing' with 'noble originality, unique lucidity of thought and style'..."

Im Mai 2022 habe ich mir für 6,79 € Ulysses als E-Reader-Version gekauft.

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