Meine Zeit im Sacred Heart¹ -- Teil 1

Meine Zeit im Sacred Heart -- Teil 1

6. Februar 2023
Seit zwei Wochen habe ich immer wieder Wohnungseinsätze, wo ich entweder Handwerker hereinlassen muss oder selbst handwerklichen Tätigkeiten nachgehe. Ich bin allein, ich hab maximal nen blassen Schimmer – und überstehe vor dieser Tätigkeiten oft einen erschütternden Nervenzusammenbruch. Der Auslöser: At the end of the line steh wirklich nur noch ich da. Ich muss entscheiden, ich muss liefern, ich muss "es regeln".

Auf der Suche nach Identifikation

Wenn es darum geht, erwachsen zu werden, fällt der eigenen Vorstellungskraft eine wichtige Aufgabe zu. Ohne Fantasie, ohne Träume ist das eine zähe, furchterregende Angelegenheit. Erwachsen werden ohne Fantasie bedeutet eigentlich nur Anpassung: Sich passiv irgendwelchen Stereotypen anzuvertrauen und damit andere Erwachsene zu imitieren. Das kann nicht lange gutgehen.

Mir wird klar, dass ich mich nach einer Identifikationsfigur sehne – ich such jemand, der an seinem ersten Tag genauso hilflos dasteht, wie ich: Meine Wahl fällt auf J.D.³ – die Hauptfigur der Serie Scrubs.
Offiziell ist Scrubs nichts weiter als eine Sitcom. Designt für einen 30-Minuten-Slot (inklusive exzessiver Werbung) im Feierabendprogramm des amerikanischen Senders NBC.

Doch die Basics unterscheiden sich: Scrubs wird nicht von mehreren Magnet- (oder später: HD-) Kameras gelichzeitig aufgezeichnet und dann zusammengeschnitten, sondern auf Film aufgezeichnet. Viele Episoden sind visuell aufregend, dank aufwendiger „Oner“ oder kreativer Einstellungen. Es gibt keinen „Laugh Track“. Und das Krankenhaus ist keine Kulisse, sondern ein verfallenes Krankenhaus in Los Angeles, das als Drehort für alle 8 Staffeln diente.

Auch die Medizin ist echt. Die Krankheiten lassen sich nachschlagen, die Prozesse sind nachvollziehbar, die Hierarchien und Arbeitsabläufe kenn ich so ungefähr auch aus meiner Zivi-Zeit im Gesundheitssektor.
Für den Humor wird gern der Begriff "wacky" verwendet. Denn innerhalb dieses ernstzunehmenden Settings kommt es zu eigenartigen Zufällen, Figuren sagen plötzlich und unerwartet die skurrilsten Dinge; Fantasien und Träumereien werden einfach vor den Augen des Publikums nachgespielt. Verdichtet und perfekt getimt ist das dann: Comedy.

8 Jahre um erwachsen zu werden

In seinen 8 Jahren am Sacred Heart wird J.D. nicht nur ein kompetenter Arzt. Er übt sich darin, seinen Bruder zu akzeptieren, wie er ist. Er bemüht sich um den Erhalt seiner Freundschaften. Er sagt Elliot, dass er sie liebt. Er lernt, für seine Fehler einzustehen. Er begreift, dass es nicht nur um Sex in Beziehungen geht. Er muss einsehen, dass er seinen Selbstwert nicht einzig von seiner Arbeit als Arzt abhängig machen kann. – Und er begreift, dass eine Figur wie Dr. Cox niemals der Ersatz für den eigenen, eher unfähigen Vater sein kann.

Vielleicht am wichtigsten für uns beide aber ist folgende Erkenntnis: Wenn ich erwachsen bin, dann handle ich entsprechend. Ich nehme stehe zu meinen Gefühlen, ich nehme meine Mitmenschen ernst, ich lasse meinen Worten Taten folgen und mache Pläne für die Zukunft.

Mein Verhältnis zu Dr. Cox

Bis zu den Episoden "My Lunch" und "My Fallen Idol" (beide tief in Staffel 5) war mir J.D.s Obsession mit Dr. Cox oft lästig. Jemand wie Cox als Vorgesetzter wäre das Ende meiner beruflichen Karriere. Ich kam noch nie mit solchen Typen klar, habe immer ein unterstützendes Wort oder das berühmte "Schulterklopfen" gebraucht. Gerade in meinen Zwanzigern war mein Selbstvertrauen so ruiniert, dass Cox mich einfach aus dem Krankenhaus gefegt hätte.
J.D.: "Normally I would kill to get into this apartment. (…) I guess after all this time, I still think of you as like this superhero that will help me out of any situation I'm in. I needed that. But, that's my problem, you know? And I'll deal with that. I guess I came over here to tell you how proud of you I am. Not because you did the best you could for those patients. But because after 20 years of being a doctor, when things go badly, you still take it this hard. And I gotta tell you, man, I mean, that's the kind of doctor I want to be." ("My Fallen Idol")

Ich kann Cox nicht ab, aber "die Serie" verhätschelt ihn glücklicherweise ebenso wenig: Er steht nie über den Verhältnissen. Er macht sich unbeliebt, hat einen Nervenzusammenbruch und wird oft eines Besseren belehrt, was sein Selbstbild angeht.
¹ Laut dem Online-Wöterbuch dict.cc bedeutet "Sacred Heart Hospital" tatsächlich "Herzjesu-Krankenhaus". Dabei ist mir nicht wirklich klar, auf welchen konfessionellen Kontext sich dieser Begriff bezieht.

² Im Ganzen selbstverständlich 9 Staffeln, aber der lächerliche Spinoff-/Sequel-Versuch des Senders ABC hat hier keinen Platz.

³ Ausgangssituation der Pilotfolge "My First Day": Praktisches Jahr an einem heruntergekommenen Krankenhaus, Studienschulden. Kaum praktische Kenntnisse. Angst. Während seiner ersten Schicht versucht J.D. seine Aufgaben vom Pflegepersonal erledigen zu lassen.

Scrubs ist bis heute nicht als Blu Ray erhältlich. Die Filmbänder müssten im Rahmen einer Restaurierung erst gereinigt und dann gescannt werden, um schließlich den HD-Transfer zu erstellen.

⁵ "One-Shot":  Einstellungen, die in einem Zug mit beweglicher Kamera aufgenommen wurden und die ungeschnitten sind.

⁶ Das abgespielte Lachen im Hintergrund jeder klassischen US-Sitcom.

⁷ Wahlweise auch aus diversen Anekdoten befreundeter Ärzt:innen.
Im Februar 2022 habe ich mir für 26,72 € eine gebrauchte Scrubs-Komplettbox (Inhalt: 31 DVDs) gekauft.
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