Die Palastrevolution auf den billigen Plätzen -- Teil 2

Palastrevolution auf den billigen Plätzen -- Teil 2

29. September 2023
Precht aber ist die einzig *positive* Überraschung an einem Abend, der sich schnell wie sone Art zäher, ausgelutschter Kindergeburtstag anfühlt. Konfrontiert mit dem sperrigsten, "langweiligsten", abstraktesten Thema – Geopolitik – ist er tatsächlich in der Lage, Begriffe zu deklinieren, Figuren und Systeme zu erklären und Verständnis herzustellen.
Richard David Precht: "Wenn man ernsthaft über Werte nachdenkt, muss man auch über Wertevermittlung nachdenken. Die beste Idee ist dann, mich anzufreunden und zu zeigen, wie schön das ist. Das heißt also: Durch Belehrung ist noch nie in der Geschichte der Menschheit irgendein Land demokratischer, liberaler oder was weiß ich was geworden."
Er scheint der einzige zu sein, der dieser Bühne und diesem Abend gewachsen ist. Schmitt verzettelt sich beim Fragen immer wieder in erklärende Monologe, bevor er zum Punkt kommt. Ich komme meistens nicht mit – und es ist RDP, der mich rettet.
Richard David Precht: "Wenn ich sie richtig verstehe, sagen sie: 'Besser ein Zeitalter ohne Moral als eines mit falschem Moralisieren'."
Auch zwischen den Interviews gibt's kaum sauber erzählte Texte oder geschliffene Dialoge des Duos Jung/Schmitt. Stattdessen Improvisationen, die es nicht vermögen, das Publikum zu fesseln.

Zufallsbegegnung im Admiralspalast

Nach zwei Stunden Interviews ist Pause (danach wird es eine Oxford-Debatte¹ geben) – und hier wird mir vollends klar, dass meine Sehnsüchte heute Abend nicht erfüllt würden. Tilo Jung und Wolfgang Schmitt haben sich offensichtlich verhoben. Es mag geil sein, eine Community zu haben, die 1.750 Tickets für den Admiralspalast kauft, aber das bedeutet nicht, dass die beiden dann wissen, wie sie damit umgehen sollen.
!B Sicht auf die Palastrevolution von billigen Plätzen.
Wenigstens der große Kronleuchter im Admiralspalast macht Eindruck.
Ich trinke Bier mit Simon. Wir stehen am Fenster und versuchen möglichst viel *frische* Luft zu inhalieren (denn es weht kein Wind), bevor es unweigerlich weitergeht. Hier kommt es dann zu einem Moment faszinierender Dörflichkeit: Ich sehe eine Freundin, Frieda, in der Nähe des Tresens stehen. Etwas verloren schaut sie in die Gegend – wie jemand, der gerade zwei Stunden in schwüler Hitze und inmitten von wabenden Körperdüften verbracht hat. Jetzt setzt meine Sozialisation auf dem Land instinktiv ein. Ich wedle mit dem Arm und muss vor Freude übers ganze Gesicht grinsen.
Frieda: "Ha verrückt, dass wir uns gesehen haben! Ich war nur kurz überfordert, weil ich super fertig war nach der ersten Hälfte und ich nicht mit dir gerechnet hatte. Hat mich aber sehr gefreut! :) "
Es ist einfach so schön, dass jemand hier ist, den ich kenne. Wir erleben diesen eigenartigen Abend quasi gemeinsam. – So weiß ich nun, mit wem ich noch über all das hier sprechen kann.

Die Palastrevolution findet ohne mich statt

Es ist ein zäher, langer, verwirrender und ziemlich enttäuschender Abend. Wirklich unterhaltsam ist in Teilen eigentlich nur die Oxford-Debatte. Immerhin sind hier ein wenig Show und Abwechslung und Struktur geboten. Qua Regelwerk meandern die Themen nicht, Gäst:innen müssen sich auf die Sache konzentrieren und können nicht endlos persönliche Befindlichkeiten ausbreiten.
Tilo Jung: "Es ist überhaupt nicht selbstverständlich, dass ein fucking Wirtschaftsweiser sich auf diese Bühne stellt und unsere Revolution debattiert: Achim Truger" [Applaus].
Doch Tilo Jung ist leider nur ein mittelmäßiger Spielleiter und bemüht sich zu wenig darum, diese Zielstrebigkeit und Struktur zu erhalten. Stattdessen lässt er sich für seine Gäst:innen-Auswahl feiern. Es wirkt manchmal eher wie Schultheater. So folgt eine ausufernde, 2-stündige Debatte auf 2 Stunden Podiumsdiskussion mit mäßig erhellendem Charakter. Irgendwann schaff ich es nicht mehr zuzuhören. Worte, Laute, Themen erreichen mich kaum noch auf den billigsten Plätzen. Jetzt will ich wirklich und unironisch, dass es vorbei ist.
Zwischenruf: "Das soll eine Revolution sein? Ihr habt nur an der Oberfläche gekratzt."

Was bleibt in Erinnerung? Ein zäher, ermüdender Abend

Insgesamt wird der Abend 4 Stunden dauern, danach bin ich nicht nur geistig, sondern auch körperlich wirklich erledigt. Es ist Freitagabend und der Alltag kocht wieder hoch: Ich hab den ganzen Tag gearbeitet – eine lange Woche liegt hinter mir, die Sorgen des Arbeits- und Privatlebens erwarten mich morgen früh wieder mit Kaffee am Küchentisch… dagegen wirkt diese Erfahrung seltsam entrückt. Der Abend lässt keine revolutionäre Energie entstehen und so lähmt die Erwerbsmüdigkeit mir die Knochen.
Frieda: "Den zweiten Teil fand ich besser (zudem hatten wir da einen anderen Platz und deutlich mehr Beinfreiheit 😂), aber eben auch zu lang. Insgesamt fand ich es einfach zäh und war ein bisschen enttäuscht."
Während drinnen jetzt alte Hits² der Arbeiterbewegung mit Gitarre (aber ohne Lagerfeuer) runtergesungen werden, verabschiede ich mich von Frieda und mache mich mit Simon auf den Weg zur U-Bahn. Tilo Jung und Wolfgang M. Schmitt haben es nicht geschafft, ihren Creator-Personas eine neue Dimension zu eröffnen. Sie bleiben die YouTuber, die sie sind – auch im Admiralspalast.
¹ Ein Debattierstil, der sich an einen der berühmtesten Debattierclubs der Welt anlehnt: Die Oxford Union.

² Auf dem Album Hannes Wader singt Arbeiterlieder (1977) des gleichnamigen Liedermachers sind die größten Klassiker vertreten. HIER anhören.

Ein Ticket der Kategorie 4 (Rang Mitte) für die Palastrevolution im Admiralspalast kostete mich 25,00 €.
Das Re-Live der Veranstaltung ist seit 24.06.2023 HIER auf YouTube zu finden.
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