Für Ulysses gehe ich in immense Vorleistung: Ich gebe Monate meiner mentalen Kapazitäten frei, ich organisiere die Hilfe einer ehemaligen Kommilitonin und lese parallel Sekundärliteratur. Aber ist es nicht das beste Buch der Welt? Was eine übersinnliche Erfahrung sein soll, verspüre ich eher als physische Belastungsprobe.
Seit etwa 20 % habe ich glücklicherweise Hilfe. Meine ehemalige Kommilitonin Kristina hat ihr Erasmus in Irland gemacht, viel Joyce und – vor allem – Ulysses gelesen. Tina lässt mich nicht im Stich: Bald erhalte ich ein ganzes Paket voller Sekundärliteratur.
Kristina: "Ich glaub ohne (…) wird es schwer. Ich kann mal zuhause schauen, ob ich noch was hab." (16.06.2022)
Declan Kiberds Ulysses and Us¹ wird mein ständiger Begleiter. Im Sommer 2022 mache ich sogar eine Pause von der Lektüre des Romans und konzentriere mich stattdessen auf Tinas Handbücher. Ich lese mich in die Chronologie des modernen Irlands ein und lerne die Namen historischer Persönlichkeiten auswendig.
Your attention! We’re nae tha fou. The Leith police dismisseth us. The least tholice. (Ulysses Pos. 8401–8402)
Ohne die Interpretationen und Analysen von Declan Kiberd bleibt der Kontext des Buches für mich verschlüsselt. Als wäre der Text in Programmiersprache² geschrieben – und Kiberd hat den Code weitestgehend begriffen.
Die tatsächliche Leseerfahrung sieht meistens so aus:
How had he attempted to remedy this state of comparative ignorance? Variously. By leaving in a conspicuous place a certain book open at a certain page: by assuming in her, when alluding explanatorily, latent knowledge: by open ridicule in her presence of some absent other's ignorant lapse. With what success had he attempted direct instruction? She followed not all, a part of the whole, gave attention with interest, comprehended with surprise, with care repeated, with greater difficulty remembered, forgot with ease, with misgiving reremembered, rerepeated with error. (Ulysses Pos. 11958–11963)
Kristinas Sekundärliteratur rettet und verdammt mich gleichermaßen. Ohne deren Hilfestellung käme ich kaum zum Ende des Buches. Allerdings wecken Kiberds Salbungen wiederum Erwartungen, die sich beim Lesen für mich so nicht erfüllen.
This is a book with much to teach us in the world - advice on how to cope with grief; how to be frank about death in the age of its denial; how women have their own sexual desires and so also do men; how to walk and think at the same time; how language of the body is often more eloquent than any words; how to tell a joke and how to not tell a joke; how to purge sexual relations of all notions of ownership; or how they way a person approaches food can explain who they really are. (Ulysses and Us S. 21)
Joyce vs. Philipp: "It’s personal"
Philipp: "Also Kristo, ich bewundere deine Offenheit und Wertschätzung diesem Buch gegenüber. Ich konnte ihm nie was abgewinnen..." (04.01.2023)
Tief in Ulysses liegt die, wie ich finde, traurigste (weil ärgerlichste) Form des Nerdtums vergraben: Der sozial isolierte, einsame, ablehnende Teenager der mich gleichzeitig verprellt – aber auch auf befremdliche Weise mein Freund sein will.
Kristina: "Ich bin einfach so fasziniert von Joyce und vielleicht verschönere ich das auch zu sehr, da ich das mit meiner Zeit in Irland verbinde."(04.01.2023)
Jetzt ist es vorbei. Für alle Zeiten werde ich bestätigen können, dass ich Ulysses tatsächlich Wort für Wort, Zeile für Zeile gelesen habe. Wirklich gut wird es erst beim zweiten Mal? Vielleicht. Aber das zu tun, würde bedeuten, dass ich mich auf eine Art für Joyce interessiere, die mir zu unterwürfig, zu hierarchisch ist. Ich bin für dieses Werk in enorme Vorleistung gegangen: Gab meine Zeit her, meine Aufmerksamkeit, meine Konzentration. Doch letztendlich fühlt sich Ulysses oft an, als wär ich zu einem Spielnachmittag mit einem besonders anstrengenden Nachbarskind verdonnert worden.
Mein Empfinden zu Episode 17: "Ithaca" deckt sich mit der Gesamterfahrung des Buches: Überlang, selbstgefällig, clever ohne Relation, emotional banal, existenziell alltäglich, künstlerisch übergriffig, philosophisch zweitklassig, eitel.
Wie hätte ich das ohne Hilfe je schaffen sollen?
Hier zweigt sich endlich meine Haltung zu Ulysses bei Desinteresse oder Verehrung. Ich verehre ungern. Ich lerne lieber, um dann selbst tätig zu werden. Und jetzt, wo die Aufgabe hinter mir liegt, spüre ich mich selbst und meine Bedürfnisse endlich wieder. James Joyce haben die nämlich nie interessiert. Und so konnten wir keine Freunde werden.
¹ Kiberd, Declan. Ulysses and Us: The Art of Everyday Living. Paperback ed., 1. publ. Faber and Faber, 2010.. ↑
² Hier fühle ich mich gleichzeitig gedemütigt und in meinem Stolz verletzt und schlicht veräppelt. ↑
Im Mai 2022 habe ich mir für 6,79 € Ulysses als E-Reader-Version gekauft.
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